Saudisch-russische Annäherung wieder in der Spur
F. William Engdahl
Nach dem unerwarteten Treffen zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und dem saudi-arabischen Verteidigungsminister und Sohn des Königs Prinz Mohammad bin Salman im Juni dieses Jahres schrieb ich in einem Beitrag, in dem Golfstaat bahne sich offenbar eine historisch bedeutsame geopolitische Wende an, weg von Washington hin zu einer neuen Arbeitsbeziehung mit Russland.

Doch dann sah es so aus, als bereiteten drei Vorfälle, die im Juni noch nicht absehbar waren, der Kooperation zwischen den ehemaligen Opponenten im Kalten Krieg ein Ende. Schließlich brachten die Wirklichkeit und eine große Portion Pragmatismus die Beziehungen zwischen beiden Ländern, die ja zu den größten Erdölproduzenten der Welt zählen, offenbar doch wieder in die Spur.
Im Juni dieses Jahres kam es am Rande des Internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg zu einem überraschenden Treffen zwischen Russlands Präsident Putin und dem saudi-arabischen Verteidigungsminister und Sohn des neuen Königs, Prinz Mohammad bin Salman.
Gesprochen wurde über Milliardenverträge, darunter, wie gemunkelt, auch der Kauf moderner russischer Waffen und Kernkraftwerke durch Saudi-Arabien. Auf Prinz Salmans Russlandbesuch folgte im August der Besuch des ägyptischen Präsidenten und engen Verbündeten Saudi-Arabiens, Abd al-Fattah as-Sisi. Später kamen der Kronprinz und Vize-Verteidigungsminister von Abu Dhabi und Jordaniens König Abdullah II. zu Gesprächen mit Putin nach Moskau.
Die Saudis und verbündete arabische Staaten waren zunehmend unzufrieden mit Washingtons Nahmittelostpolitik und dem amerikanischen Schieferölboom, der ihre führende Rolle bei der Festsetzung des weltweiten Ölpreises unterminierte.
Der Obama-Regierung war der Partner jetzt anscheinend weniger wichtig, der zuvor ein wichtiger Verbündeter gewesen war, seit König ibn Saud bei einem folgenschweren Treffen mit Präsident Roosevelt im Jahr 1945 den Rockefeller-Ölgesellschaften exklusive Bohrrechte in Saudi-Arabien gewährt hatte.
Der Zorn Allahs?
Ende August deutete alles auf eine geopolitische Wende der sunnitisch geprägten arabischen Ölländer im Nahen und Mittleren Osten hin, weg von Washington in Richtung Moskau. Dann kam es in Saudi-Arabien, das auch Wächter von Mekka und Medina, der heiligen Stätten der islamischen Welt, ist, zu zwei schweren Zwischenfällen.
Der erste ereignete sich am 11. September (sic!), als ein tonnenschwerer Baukran auf die Große Moschee in Mekka stürzte. Bei dem Unglück starben 100 Menschen. Bemerkenswert: Der Kran gehörte der Binladin Construction Group. Die saudische Regierung verhängte umgehend ein Reiseverbot über die Führungsschicht des Unternehmens bis zum Abschluss der Untersuchung
über ihre mögliche Verantwortlichkeit.

Die Binladin Group ist nicht nur das wichtigste Bauunternehmen für die saudi-arabische Monarchie, sondern die Familie unterhält auch enge Beziehungen zur Bush-Familie in den USA. Mitglieder der Bin-Laden-Familie waren am 11. September 2001 in Washington, sie wurden eilig und diskret ausgeflogen, obwohl der amerikanische Luftraum nach den Anschägen auf das World Trade Center und das Pentagon geschlossen war. Die Familie ist auch die Familie des berüchtigten CIA-trainierten Osama bin Laden. Die Welt ist wahrhaftig klein.
Nicht einmal zwei Wochen nach dem ersten Unglück, am 24. September, kam es während der Pilgerfahrt nach Mekka, zu der sich alljährlich Millionen gläubiger Muslime aus aller Welt versammeln, zur schlimmsten Massenpanik seit 25 Jahren. Über 700 Menschen, einigen Berichten zufolge sogar bis zu 1400, wurden bei der Panik zu Tode getrampelt und gequetscht. Es braucht nicht viel, um eine solche Panik in der dicht gedrängten Menge Hunderttausender Pilger auszulösen. Schon ein paar gut platzierte professionelle Agenten, die »Feuer« schreien, würden genügen.
Das Zusammentreffen beider Zwischenfälle – der Binladin-Kran, der am 11. September auf die Große Moschee in Mekka stürzte, und die Panik, bei der wenige Tage später Hunderte von Pilgern starben, ist zu auffällig, um reiner Zufall zu sein.
Sollen wir glauben, dies sei der »Zorn Allahs« gewesen? Jemand schien ein Interesse daran zu haben, genau zu der Zeit, als in der syrischen Hafenstadt Latakia die Vorbereitungen für den russischen Militäreinsatz begannen, der saudi-arabischen Monarchie eine klare Warnung zu senden. Dessen bin ich mir sicher.
»Dschihad« gegen Russland
Die Warnung schien zu wirken. Am 1. Oktober, nach dem ersten Tag der russischen Luftangriffe gegen die Infrastruktur von ISIS und anderen Terrorgruppen in Syrien, verlangte der saudi-arabische Botschafter bei den Vereinten Nationen den umgehenden Stopp aller Angriffe in Syrien, die sich nicht gegen ISIS richteten.
Nach der ersten Woche intensiver und höchst effektiver russischer Luftangriffe gegen Stellungen der Terroristen, einschließlich ISIS und al-Qaida in Syrien, unterzeichneten in Saudi-Arabien 55
islamische Geistliche, darunter prominente Islamisten, eine gemeinsame Erklärung, in der »wahre Muslime« aufgefordert wurden, den Kampf gegen die Armee von Syriens Präsident Baschar al-Assad sowie iranische und russische Kräfte »moralisch, materiell, politisch und militärisch« zu unterstützen.

In dem Aufruf hieß es:
»Die heiligen Krieger von Syrien verteidigen die gesamte islamische Nation. Vertraut ihnen und unterstützt sie … denn wenn sie geschlagen werden, was Gott verhüten möge, wird es den Wendepunkt für ein sunnitisches Land nach dem anderen bedeuten.«
Die Erklärung bezeichnete Russlands Einmischung als »orthodoxen Kreuzzug«, ein Bezug zu den großen Kreuzzügen der römischen Kirche gegen das orthodoxe christliche Byzanz nach 1095 und später gegen den Islam. Praktisch riefen die saudi-arabischen Geistlichen zu einem »Gegen-Kreuzzug« des Islam gegen das orthodoxe Russland auf. Es sah so aus, als ob die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Russland im arabischen Sande verlaufen würde.
Ein neuer saudischer Ansatz
Der Aufruf für einen Dschihad war allerdings keineswegs ein offiziell von Saudi-Arabien sanktionierter Dschihad, sondern er wurde von »oppositionellen« Geistlichen verfasst. Zudem haben sich die politischen Beziehungen zwischen Moskau und der Regierung in Riad, die von den
Geistlichen unabhängig ist, in letzter Zeit zum Positiven verändert.

Am 11. Oktober traf Verteidigungsminister Prinz bin Salman zum zweiten Mal in vier Monaten mit Wladimir Putin zusammen, dieses Mal in Sotschi. Wie Außenminister Sergei Lawrow nach dem Treffen erklärte, einigten sich beide Seiten auf eine Kooperation in Syrien mit dem Ziel, die Bildung eines »terroristischen Kalifats« zu verhindern.
Wenn diese Entwicklung weitergeht, bedeutet sie einen wichtigen positiven Schritt zum Frieden in der Region, denn Saudi-Arabien hat während der Regentschaft von König Abdullah und dessen Geheimdienstchef Prinz Bandar zahlreiche Terrorgruppen finanziert, um das Assad-Regime zu stürzen. Bandar wurde im Januar abrupt vom neuen König entlassen, ein Hinweis darauf, dass Riad eine neue Strategie verfolgt.
Das unterstrich auch das Treffen in Sotschi am 11. Oktober. Trotz der Zwischenfälle in Mekka und des Drucks aus Washington hat das saudi-arabische Königshaus beschlossen, die Annäherung an Russland fortzuführen, auch bei der Unterstützung der russischen Luftangriffe in Syrien.
Weltweite Annäherung beim Erdöl
Ein weiterer Hinweis darauf, dass eine große Wende weg von Washington im Gang ist, kam schon drei Tage nach den Gesprächen zwischen Prinz Salman und Putin in Sotschi. Der russische Energieminister Alexander Nowak teilte mit, für November sei ein Treffen mit Vertretern Saudi-Arabiens und des Iran geplant.
Thema der Gespräche werde die Lage auf dem Erdölmarkt sein. Nowak: »Das Treffen mit Saudi-Arabien und den Iranern wird im November stattfinden.« Russlands Energieministerium sei außerdem zu einem Expertentreffen der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) am 21. Oktober eingeladen worden.
Die Annäherung der Saudis und der arabischen OPEC-Länder an Russland und potenziell den Iran würde den Golfstaaten die Möglichkeit eröffnen, sich am größten globalen Infrastrukturprojekt zu beteiligen, nämlich Chinas One Belt, One Road-Infrastrukturentwicklung für Eurasien, in die
Russland und die Mitgliedsländer der Eurasischen Wirtschaftsunion voll integriert sind.

Es wäre weitaus positiver, als Tausende wilder Terroristen aufzuwiegeln, die mit Sicherheit gegen das saudi-arabische Königshaus und andere Herrscherhäuser am Golf vorgehen werden, wenn sie in Syrien und dem Irak nicht besiegt werden.
Am 22. September veröffentlichte das Online-Journal New Eastern Outlook eine von mir erstellte Analyse, in der ich erklärte: »Jetzt hat Washington den Nahen und Mittleren Osten verloren.« Das war wenige Tage bevor die Welt auf die russische Truppenkonzentration in Latakia aufmerksam wurde und bevor Russland einen echten Krieg gegen den Terror begann. Diese Prognose scheint heute wahrscheinlicher denn je.
Eine weltweite Einigung über die Ölförderung zwischen Russland, Saudi-Arabien und dem Iran würde Washington eine seiner schärfsten geopolitischen Waffen aus der Hand schlagen. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger soll während des Ölpreisschocks der 1970er Jahre gesagt haben: »Wer über das Erdöl herrscht, der herrscht über ganze Länder und Gruppen von Ländern.«
Jetzt rächen sich Washingtons schmierige geopolitische Untaten.
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