Henry Kissinger: Lasst Russland den Islamischen Staat besiegen
Redaktion
Die Zerschlagung des Islamischen Staates (IS, ISIS) habe gegenüber einem Regimewechsel in Syrien höheren Vorrang, erklärte Henry Kissinger und fügte hinzu, das russische Eingreifen könnte im Nahen und Mittleren Osten, der zuvor fast völlig von den USA dominiert wurde, wieder Ordnung herstellen.

»Die Zerschlagung von ISIS ist wichtiger als der Sturz Baschar al-Assads«, schrieb der bekannte amerikanische Staatsmann, der unter den Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford Außenminister war, am vergangenen Freitag im Wall Street Journal, »Die gegenwärtig erfolglosen amerikanischen militärischen Bemühungen könnten sogar verstärkte Rekrutierungserfolge des IS nach sich ziehen, da dieser sich der amerikanischen Macht widersetzte.«
In einem Kommentar mit der Überschrift »Ein Ausweg aus dem Zusammenbruch des Nahen und Mittleren Ostens« argumentiert Kissinger, die Region sei ein »einziger Scherbenhaufen«, da nichtstaatliche Bewegungen Länder wie Libyen, den Jemen, Syrien und den Irak auseinandergerissen hätten. Er bezeichnete den sogenannten Islamischen Staat (IS, auch als ISIS und ISIL bekannt), der in Teilen des Iraks und Syriens die Kontrolle übernommen hat, als»unerbittlichen Feind der etablierten Weltordnung«, der versuche, die internationale Ordnung durch ein islamisches Weltreich zu ersetzen.
Die USA hätten zwar die Region nach dem arabisch-israelischen Krieg 1973 dominiert, gegenwärtig sei Washington aber mit praktisch jedem Machtfaktor in der Region zerstritten und drohe, die letzten Einflussmöglichkeiten zu verlieren, warnte Kissinger. Im Nahen und Mittleren Osten gehe es heute darum, ob Amerika in der Lage sei, eine neue Welt zu verstehen und in ihr eine führende Rolle
einzunehmen.

Russland habe lediglich, so fuhr er fort, das Vakuum, das von der widersprüchlichen und verworrenen amerikanischen Politik hervorgerufen worden sei, ausgefüllt. Moskaus Eingreifen in Syrien sei weniger durch ideologische, als vielmehr durch geopolitische Überlegungen geleitet.
Auf ideologischer Ebene wirke sich hier der Konflikt zwischen »zwei rigiden und apokalyptischen Blocks« aus: den schiitischen Gruppierungen, die vom Iran unterstützt werden, und den sunnitischen Staaten wie etwa Ägypten, Saudi-Arabien und Jordanien.
Aus Sicht Kissingers handelt es sich beim Iran um eine imperialistische Macht, die versucht, durch die Unterstützung der Regierung Assad in Damaskus sowie über nichtstaatliche Akteure wie die Hisbollah im Libanon und die Huthi im Jemen ihren Einfluss auszuweiten. Demgegenüber versuchten die sunnitischen Staaten, Assad zu stürzen, weil sie die Pläne des Irans mehr als die des IS fürchten.
Darüber hinaus hätten die USA, so Kissinger weiter, ihre Alliierten durch den Abschluss des Atomabkommens mit dem Iran, das im sunnitischen Nahen und Mittleren Osten »allgemein als
stillschweigende amerikanische Duldung einer iranischen Hegemonie« gesehen werde, vor den Kopf gestoßen.

Das Atom-Abkommen mit dem Iran könne nicht mit dem Durchbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und China Anfang der 1970er-Jahre verglichen werden, warnte Kissinger.
Während Washington und Peking damals insbesondere gegenüber der Sowjetunion durchaus gemeinsame Ziele verfolgt hätten, seien die USA und der Iran noch immer grundsätzlich zerstritten. Das russische Eingreifen in Syrien »unterstützt [zwar] die iranische Politik, den schiitischen Faktor in Syrien zu stützen«, Moskau sehe sich aber nicht in der Verpflichtung, Assad auf ewige Zeiten an der Macht zu halten, schrieb Kissinger.
So gesehen könnte ein russischer Sieg über den Islamischen Staat ohne die Notwendigkeit einer offenen iranischen Beteiligung dem sunnitischen Block einen gesichtswahrenden Ausweg eröffnen,
solange die befreiten Gebiete wieder »lokaler sunnitischer Kontrolle« unterstellt würden. In diesem Szenario könnten, so Kissinger, Ägypten, Jordanien, die Türkei und Saudi-Arabien eine wichtige Rolle spielen.

Nach einem Sieg über den IS hält Kissinger eine Föderalisierung Syriens für erstrebenswert, da dies »die Gefahr eines Völkermords oder von Chaos verringert, die sonst zu einem Triumph der Terroristen führen« könnten.
Washington sollte zum Dialog mit Teheran über »eine Rückkehr des Irans zu seiner Rolle eines Staates innerhalb festgelegter Grenzen [im Sinne des Souveränitätsprinzips des] Westfälischen Friedens bereit« sein.
Die wichtigste Aufgabe der USA bestünde darin, »gegenüber den traditionell sunnitischen Staaten die militärischen Garantien umzusetzen, die die Regierung während der Diskussion über das Atom-Abkommen mit dem Iran versprochen hat«, meinte Kissinger.
.
Copyright © 2015 by RussiaToday
Bildnachweis: "Henry Kissinger - World Economic Forum Annual Meeting Davos 2008 numb2" by World Economic Forum - originally posted to Flickr as Henry Kissinger - World Economic Forum Annual Meeting Davos 2008. Licensed under CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Meinung des Verlags oder die Meinung anderer Autoren dieser Seiten wiedergeben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen